Liebes Tinchen,
während ich dies schreibe, kommen so viele Erinnerungen zu mir zurück. Eigentlich wollte ich keinen Hamster mehr – der Tod des letzten war zu schmerzhaft gewesen. Aber seit ich als Teenager meinen ersten Hamster in einem winzigen Käfig zu Tode ignoriert hatte (ich war fünfzehn und kann mich nicht einmal damit verteidigen, ich sei noch ein Kind gewesen), stehe ich in der Schuld aller Hamster. Das ist sicherlich pathetisch, und doch wünscht man sich oft, man hätte es besser gemacht. Im Frühling des letzten Jahres, es ist noch nicht 12 Monate her, gab es eine Wohnungsräumung in Berlin, in der auch ein hochgestresstes, dreifarbiges, großes und dickliches Hamstermädchen auftauchte, das warst du. Inge erzählte Tin von dir, und Tin stimmte zu, den Hamster aufzunehmen. Ich dachte, du würdest im Hamsterparadies bei ihr landen. Tagelang räumte sie ihre Möbel von einer Seite auf die andere, doch eine Voliere für den neuen Hamster paßte nicht. Tin war traurig. Dann fällte irgend etwas in mir die Entscheidung, den Hamster aufzunehmen. Als ich es Tin sagte, lachte sie mich zunächst aus – danach schickte sie mir das größte Freßpaket für Hamster, das man sich vorstellen kann. Ich fragte sie, ob es ihr recht sei, wenn ich den Hamster nach ihr benenne, und sie meinte, Sisyphos sei kein guter Name für ein Hamstermädchen (Tin und ich nannten einander Kassandra und Sisyphos). Ich holte dich aus dem Schlupfloch ab, und da waren sie zum ersten Mal: deine riesigen tütenförmigen und gefleckten Ohren, deine witternde Nase, die glänzenden schwarzen Augen, dein typischer Gesichtsausdruck, der fragte, was es Neues gäbe, und sich über das menschliche Wirken so maßlos zu erstaunen schien. In deinem alten Zuhause wurdest du von einer Tiersammlerin in einem verdreckten 60er Aquarium ohne Einrichtung gehalten.
Du kamst mit Atemgeräuschen an, und ich mußte dich mit Tetracyclin-Spritzen quälen. Noch nie zuvor hatte ich solche Geräusche von einem Hamster gehört. Du hast gefaucht, gezischt, gemotzt, gezetert, gewinselt, geweint – wenn jemand nach dir griff. Ich habe dich ganz wenige Male in meiner Hand gehabt. Gestern hatte ich dich ganz lange in meiner Hand. Menschen waren für dich nur als Futtergeber interessant, und du warst der freundlichste Goldhamster, den ich mir vorstellen kann: Fast nie schlecht gelaunt, immer neugierig, ganz, ganz vorsichtig. Du hättest nie aus Gier in den Finger gebissen, der dir einen Kürbiskern reicht. Ganz behutsam hast du den Kern mit den Pfoten und den Zähnen abgenommen. Niemals hättest du mich gebissen, wenn du dich nicht in Lebensgefahr gesehen hättest. Du warst leise, sanft, vorsichtig, aber mißtrauisch nicht.
Dein Alter kann ich nur schätzen. Du bist etwa 1,5 bis 2 Jahre alt geworden. Du hast dir beim Essen irgendeinen Fremdkörper, ein Korn, eine Spelze, ich weiß es nicht, in den Hals gebohrt. Daraufhin entwickelte sich ein großer, schmerzhafter Abszess. Ich bin fassungslos, daß so etwas passieren kann, und fassungslos, daß es dir passiert ist.
Ich weiß noch, wie du in deine Voliere eingezogen bist. Ganz überfordert warst du von so viel Platz und hast zwei Tage lang alles hektisch mit deiner Flankendrüse markiert, es du ruhiger wurdest. Du hattest deine allabendlichen Trampelpfade, die du abgelaufen bist, um nachzusehen, wo ich Futter versteckt hätte. Und sobald du mich gesehen hast, hast du dich auf den Hinterpfoten aufgestellt und bist dann zu mir gekommen und hast gebettelt, als würdest du gleich verhungern.
Als ich vorgestern abend den Abszess sah, war mir klar, wie ernst es um dich steht. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dir zum TA, der beschloß, den Abszess zwei Tage antibiotisch zu behandelt und ihn am Montag zu spalten und zu spülen. Dann sollte er sich auch etwas zurückgebildet haben. Mein Mädchen, es tut mir so leid, daß ich dir so kurz vor deinem Tod noch so viel Streß angetan habe. Du wolltest nur noch im Nest schlafen, mehr nicht. Gestern war ich von der durchwachten Nacht zuvor zu erschöpft, daß ich mich um halb acht hingelegt habe. Um Viertel nach zehn kam ich ins Tierzimmer, du warst wie üblich um diese Uhrzeit aufgestanden. Der Abszess war weiter angeschwollen und begann sich unten zu öffnen. Du warst krumm und stelzig vor Schmerzen. Für mich stand fest, daß ich dich in dieser Nacht verabschieden würde oder den Abszeß ausspülen. Ich konnte nicht zulassen, daß du die ganze Nacht starke Schmerzen hättest oder gar verbluten würdest.
Also fuhr ich mit dir zu meinem Notfall-TA, der 24 Stunden aufhat. Um dreiundzwanzig Uhr war ich da. Es war eine der schlimmsten Nächte für mich. Lange besprach ich mich mit der TÄ, wog jede Entscheidungsmöglichkeit ab. Ich sah dich an und wußte, daß du einfach nur nicht mehr leiden wolltest. Der Wunsch zu leben wohnt jedem Lebewesen inne, aber ich denke, ich hätte dir durch eine Öffnung des Abszess keine leidensfreie Zeit mehr verschafft. Abszesse bei Nagern kommen oft wieder. Und für einen nichtzahmen Hamster wäre es die Hölle, wenn täglich der Abszess gespült werden müßte. Kurz bevor ich mich entschied, wurde die TÄ zu einem Notfall gerufen, einer Magendrehung bei einem Schäferhundwelpen. Da saß ich dann allein mit dir, Tinchen, und habe mich von dir verabschiedet und dir alles gesagt, was ich dir noch sagen wollte. Die TÄ operierte den Welpen, an meiner Tür rannten weinende Menschen vorbei und ich wußte, daß der Hund es nicht geschafft hatte. Ich war kurz davor, selbst an das Medikamentenregal zu gehen, damit du keine Schmerzen mehr hast. Ich habe extra ein Stück Gurke und Futter mitgenommen und dir beides gegeben. Da saßest du und hast glückselig auf deiner Gurke herumgelutscht. Die TÄ kam wieder, völlig geschafft, und ich sah ihr an, daß sie litt. Die TÄ hatte alleine Dienst. Ich sagte ihr, daß wir hier Schluß machen würden, daß ich Tinchen den Schmerz und den Streß nicht antun wolle, daß ich nicht überzeugt sei, daß sie je wieder leidensfrei sein würde. Sie meinte, sie hätte bei ihrem Tier genauso entschieden. Vermutlich hättest du die Narkose in deinem geschwächten Zustand auch nicht überlebt, kleines Tinchen. Das letzte, was ich dir versprechen konnte, war, daß gleich alles vorbei sein würde, und wenigstens hatte ich damit recht, denn du bist mit einer Narkoseüberdosierung innerhalb von wenigen Sekunden eingeschlafen für immer. Ich entschuldigte mich bei der TÄ für diese furchtbare Nacht für sie, sie sah mich an und hatte Tränen in den Augen. Draußen im Wartezimmer war ein Hund eingetroffen, der Rattengift gefressen hatte.
Ich brachte dich nach Hause und hielt dich so lange in meiner Hand, bis dein kleiner Körper ausgekühlt und steif war. Erst dann kamen der Kreislaufkollaps und die Übelkeit. Ich hätte dir so gerne noch viele Monate bei mir ermöglicht. Es war reiner Egoismus von mir, dich gestern mit mir herumzutragen, aber du hast es nicht mehr gespürt und hattest keine Angst mehr. Aber das Leben wird nicht in seiner Länge, sondern in seiner Tiefe gemessen. Hoffentlich waren die letzten Monate für dich schön. Ich werde dich immer vermissen, Tinchen, ich liebe dich. Das Wesen des Lebendigen ist seine Einmaligkeit, und nie wieder wird ein Hamsterchen wie du leben.
Vindoatus, die sich mit diesen Worten auf unbestimmte Zeit abmelden muß
Immer wieder,
ob wir der Liebe Landschaft auch kennen
und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen
und die furchtbar verschweigende Schlucht,
in welcher die anderen enden:
immer wieder gehn wir zu zweien hinaus
unter die alten Bäume,
lagern uns immer wieder zwischen Blumen,
gegenüber dem Himmel.
Rainer Maria Rilke
während ich dies schreibe, kommen so viele Erinnerungen zu mir zurück. Eigentlich wollte ich keinen Hamster mehr – der Tod des letzten war zu schmerzhaft gewesen. Aber seit ich als Teenager meinen ersten Hamster in einem winzigen Käfig zu Tode ignoriert hatte (ich war fünfzehn und kann mich nicht einmal damit verteidigen, ich sei noch ein Kind gewesen), stehe ich in der Schuld aller Hamster. Das ist sicherlich pathetisch, und doch wünscht man sich oft, man hätte es besser gemacht. Im Frühling des letzten Jahres, es ist noch nicht 12 Monate her, gab es eine Wohnungsräumung in Berlin, in der auch ein hochgestresstes, dreifarbiges, großes und dickliches Hamstermädchen auftauchte, das warst du. Inge erzählte Tin von dir, und Tin stimmte zu, den Hamster aufzunehmen. Ich dachte, du würdest im Hamsterparadies bei ihr landen. Tagelang räumte sie ihre Möbel von einer Seite auf die andere, doch eine Voliere für den neuen Hamster paßte nicht. Tin war traurig. Dann fällte irgend etwas in mir die Entscheidung, den Hamster aufzunehmen. Als ich es Tin sagte, lachte sie mich zunächst aus – danach schickte sie mir das größte Freßpaket für Hamster, das man sich vorstellen kann. Ich fragte sie, ob es ihr recht sei, wenn ich den Hamster nach ihr benenne, und sie meinte, Sisyphos sei kein guter Name für ein Hamstermädchen (Tin und ich nannten einander Kassandra und Sisyphos). Ich holte dich aus dem Schlupfloch ab, und da waren sie zum ersten Mal: deine riesigen tütenförmigen und gefleckten Ohren, deine witternde Nase, die glänzenden schwarzen Augen, dein typischer Gesichtsausdruck, der fragte, was es Neues gäbe, und sich über das menschliche Wirken so maßlos zu erstaunen schien. In deinem alten Zuhause wurdest du von einer Tiersammlerin in einem verdreckten 60er Aquarium ohne Einrichtung gehalten.
Du kamst mit Atemgeräuschen an, und ich mußte dich mit Tetracyclin-Spritzen quälen. Noch nie zuvor hatte ich solche Geräusche von einem Hamster gehört. Du hast gefaucht, gezischt, gemotzt, gezetert, gewinselt, geweint – wenn jemand nach dir griff. Ich habe dich ganz wenige Male in meiner Hand gehabt. Gestern hatte ich dich ganz lange in meiner Hand. Menschen waren für dich nur als Futtergeber interessant, und du warst der freundlichste Goldhamster, den ich mir vorstellen kann: Fast nie schlecht gelaunt, immer neugierig, ganz, ganz vorsichtig. Du hättest nie aus Gier in den Finger gebissen, der dir einen Kürbiskern reicht. Ganz behutsam hast du den Kern mit den Pfoten und den Zähnen abgenommen. Niemals hättest du mich gebissen, wenn du dich nicht in Lebensgefahr gesehen hättest. Du warst leise, sanft, vorsichtig, aber mißtrauisch nicht.
Dein Alter kann ich nur schätzen. Du bist etwa 1,5 bis 2 Jahre alt geworden. Du hast dir beim Essen irgendeinen Fremdkörper, ein Korn, eine Spelze, ich weiß es nicht, in den Hals gebohrt. Daraufhin entwickelte sich ein großer, schmerzhafter Abszess. Ich bin fassungslos, daß so etwas passieren kann, und fassungslos, daß es dir passiert ist.
Ich weiß noch, wie du in deine Voliere eingezogen bist. Ganz überfordert warst du von so viel Platz und hast zwei Tage lang alles hektisch mit deiner Flankendrüse markiert, es du ruhiger wurdest. Du hattest deine allabendlichen Trampelpfade, die du abgelaufen bist, um nachzusehen, wo ich Futter versteckt hätte. Und sobald du mich gesehen hast, hast du dich auf den Hinterpfoten aufgestellt und bist dann zu mir gekommen und hast gebettelt, als würdest du gleich verhungern.
Als ich vorgestern abend den Abszess sah, war mir klar, wie ernst es um dich steht. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dir zum TA, der beschloß, den Abszess zwei Tage antibiotisch zu behandelt und ihn am Montag zu spalten und zu spülen. Dann sollte er sich auch etwas zurückgebildet haben. Mein Mädchen, es tut mir so leid, daß ich dir so kurz vor deinem Tod noch so viel Streß angetan habe. Du wolltest nur noch im Nest schlafen, mehr nicht. Gestern war ich von der durchwachten Nacht zuvor zu erschöpft, daß ich mich um halb acht hingelegt habe. Um Viertel nach zehn kam ich ins Tierzimmer, du warst wie üblich um diese Uhrzeit aufgestanden. Der Abszess war weiter angeschwollen und begann sich unten zu öffnen. Du warst krumm und stelzig vor Schmerzen. Für mich stand fest, daß ich dich in dieser Nacht verabschieden würde oder den Abszeß ausspülen. Ich konnte nicht zulassen, daß du die ganze Nacht starke Schmerzen hättest oder gar verbluten würdest.
Also fuhr ich mit dir zu meinem Notfall-TA, der 24 Stunden aufhat. Um dreiundzwanzig Uhr war ich da. Es war eine der schlimmsten Nächte für mich. Lange besprach ich mich mit der TÄ, wog jede Entscheidungsmöglichkeit ab. Ich sah dich an und wußte, daß du einfach nur nicht mehr leiden wolltest. Der Wunsch zu leben wohnt jedem Lebewesen inne, aber ich denke, ich hätte dir durch eine Öffnung des Abszess keine leidensfreie Zeit mehr verschafft. Abszesse bei Nagern kommen oft wieder. Und für einen nichtzahmen Hamster wäre es die Hölle, wenn täglich der Abszess gespült werden müßte. Kurz bevor ich mich entschied, wurde die TÄ zu einem Notfall gerufen, einer Magendrehung bei einem Schäferhundwelpen. Da saß ich dann allein mit dir, Tinchen, und habe mich von dir verabschiedet und dir alles gesagt, was ich dir noch sagen wollte. Die TÄ operierte den Welpen, an meiner Tür rannten weinende Menschen vorbei und ich wußte, daß der Hund es nicht geschafft hatte. Ich war kurz davor, selbst an das Medikamentenregal zu gehen, damit du keine Schmerzen mehr hast. Ich habe extra ein Stück Gurke und Futter mitgenommen und dir beides gegeben. Da saßest du und hast glückselig auf deiner Gurke herumgelutscht. Die TÄ kam wieder, völlig geschafft, und ich sah ihr an, daß sie litt. Die TÄ hatte alleine Dienst. Ich sagte ihr, daß wir hier Schluß machen würden, daß ich Tinchen den Schmerz und den Streß nicht antun wolle, daß ich nicht überzeugt sei, daß sie je wieder leidensfrei sein würde. Sie meinte, sie hätte bei ihrem Tier genauso entschieden. Vermutlich hättest du die Narkose in deinem geschwächten Zustand auch nicht überlebt, kleines Tinchen. Das letzte, was ich dir versprechen konnte, war, daß gleich alles vorbei sein würde, und wenigstens hatte ich damit recht, denn du bist mit einer Narkoseüberdosierung innerhalb von wenigen Sekunden eingeschlafen für immer. Ich entschuldigte mich bei der TÄ für diese furchtbare Nacht für sie, sie sah mich an und hatte Tränen in den Augen. Draußen im Wartezimmer war ein Hund eingetroffen, der Rattengift gefressen hatte.
Ich brachte dich nach Hause und hielt dich so lange in meiner Hand, bis dein kleiner Körper ausgekühlt und steif war. Erst dann kamen der Kreislaufkollaps und die Übelkeit. Ich hätte dir so gerne noch viele Monate bei mir ermöglicht. Es war reiner Egoismus von mir, dich gestern mit mir herumzutragen, aber du hast es nicht mehr gespürt und hattest keine Angst mehr. Aber das Leben wird nicht in seiner Länge, sondern in seiner Tiefe gemessen. Hoffentlich waren die letzten Monate für dich schön. Ich werde dich immer vermissen, Tinchen, ich liebe dich. Das Wesen des Lebendigen ist seine Einmaligkeit, und nie wieder wird ein Hamsterchen wie du leben.
Vindoatus, die sich mit diesen Worten auf unbestimmte Zeit abmelden muß




Immer wieder,
ob wir der Liebe Landschaft auch kennen
und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen
und die furchtbar verschweigende Schlucht,
in welcher die anderen enden:
immer wieder gehn wir zu zweien hinaus
unter die alten Bäume,
lagern uns immer wieder zwischen Blumen,
gegenüber dem Himmel.
Rainer Maria Rilke