Alizin - zu empfehlen oder zu gefährlich?

Binchen

Mäusologie-Meister*in
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Hallo ihr Lieben!

Ich weiß, dass es seit Längerem schon fast gang und gäbe ist bei größeren, aber auch kleineren Notfällen Alizin einzusetzen, damit vermutet trächtige Mädels die Embryonen/Föten abtreiben.
Deswegen habe ich recherchiert und will hier aufklären.

Allgemeines und Wirkweise

Der Wirstoff heißt Aglepriston und ist ein hormonähnliches Steroid, welcher die Progesteronrezeptoren im Körper besetzen, dennoch eine andere Wirkung haben.
Somit wird im Endeffekt die Wirkweise des Hormons Progesteron gehemmt.
Progesteron bewirkt quasi, dass sich die Gebärmutter auf die Einnistung des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut vorbereitet- sprich die Schleimhaut bildet vermehrt Drüsen aus, wird stärker durchblutet und die Uterusmuskeln passen sich der wachsenden Belastung an.
Durch das verabreichte Aglepristin in Form von Alizin wird die Trächtigkeit daher langsam gestoppt und Embryonen/Föten erst gar nicht eingenistet oder abgestoßen. In der Regel wird die Schleimhaut mit den nicht resorbierten (vom Körper wieder aufgenommenen und verwerteten) Überresten ganz normal über die Vagina ausgeschieden.

Normaler Anwendungsbereich

Hunde:
Alizin wurde in erster Linie dazu entwickelt um bei Hunden nach unerwünschter Deckung ein Einnisten der Embryonen zu verhindern (Antibabyspritze), es wird aber auch zur Abreibung von Föten ( bis zum zweiten Drittel der Trächtigkeit (45.Tag)) verwendet.

Aber es wird wohl auch zur Behandlung einer konservativen Gebärmutterentzündung eingesetzt, da Aglepristin den Gebärmutterhals erweitert und durch die erhöhte passive Beweglichkeit der Eiter besser abfließen kann.

Katzen:
Hier wird Alizin wohl auch bei konservativen Gebärmutterentzündungen und bei krankhaft vergrößerten, knotigen Milchdrüsen (feline Fibroademonatose) verwendet.


wichtige Hinweise

Bei etwa 95% der Abtreibungen erfolgt die Entleerung der Gebärmutter erst nach rund 7 Tagen, sprich so lange verbleiben die Embryonen/Föten und die absterbende Schleimhaut noch im Tier. Um Blutvergiftungen vorzubeugen wird deutlich zu einer parallel verlaufenden Antibiotikabehandlung geraten. Zudem sollen nur mittels Ultraschall nachweisbar trächtige Tiere behandelt werden.
In etwa 5% der Fälle wird nur ein Teil des Gebärmutterinhalts ausgeschieden, sprich der Rest des abgestorbenen Geweben verbleibt weiterhin in der Gebärmutter und erhöht das Blutvergiftungsrisiko nochmal enorm.
Deswegen sollte rund 10 Tage nach der Alizinbehandlung nochmal mittels Ultraschall nachgeschaut werden ob tatsächlich alles gut verlief oder nur eine Teilausscheidung eingetreten ist.


Was bedeutet das für die Anwendung bei Farbmäusen?

Allein schon die Ultraschalluntersuchungen sind kaum möglich, da die Gebärmuttern nur knapp unter der Bauchdecke sitzen und der Ultraschall für tiefere Gewebsuntersuchungen vorgesehen ist (ich lass mich da aber gern von den Fachleuten belehren wenn ich falsch liege *heilig*).
Aglepriston wirkt nur langsam- versorgende Blutgefäße in der Plazenta (Mutterkuchen) bilden sich nicht von jetzt auf gleich zurück, das geschieht während mehrerer Tage und dementsprechend langsam sterben auch bereits eingenistete Föten/Embryonen. Sie sterben an Unterversorgung. Wenn man bedenkt was Föten schon alles fühlen und von ihrer Umgebung mitbekommen ist das wirklich grausam.
Bei kleinen Würfen und daher keiner oder kaum merkbarer Birnenform können die Jungtiere schon komplett entwickelt sein.
Die Dosierungsangaben sind für ein Körpergewicht ab 3kg gelistet- runter rechnen wäre ja soweit weniger das Problem, aber welcher Tierarzt kennt die Progesteronmenge einer trächtigen Farbmaus und wie schnell es verstoffwechselt wird?
Somit sind Über- oder Unterdosierungen nicht zu vermeiden und keines davon ist gut weil die Behandlung beim gesunden Hund schon mit Risiken behaftet ist.
Parallel Antibiotika geben kein Problem- es muss nur eins sein, dass auch bei Farbmäusen nachgewiesen in den Geschlechtsorganen wirkt (das dürfte die Auswahl stark eingrenzen).
Ist nur die Frage: Wie merkt man ob die Gebärmutter zu 100% leer ist oder ob ein Rest zurück blieb? Einfach nach 10 Tagen das AB absetzen und hoffen, dass die Maus nicht plötzlich Anzeichen einer Blutvergiftung (Sepsis) zeigt? Das kann binnen weniger Stunden zum Tod führen.
Und was wenn man eine septische Maus hat? AB ist klar, aber das beseitigt ja noch lange nicht die Ursache.. nochmal eine Alzinbehandlung, diesmal mit einem stark geschwächten Tier in der Hoffnung, dass diesmal nichts schief geht?
Da Aglepriston nur sehr langsam über den Kot ausgeschieden wird ( bei Hunden ist nach 10 Tagen erst 60% des Steroids ausgeschieden, nach 24 Tagen ca 80%), daher kann eine nochmalige Behandlung (bei Teilleerung der Gebärmutter) direkt eine starke Überdosierung verusachen.

Mein Fazit:

Nach dem was ich jetzt weiß würde ich wohl keine Farbmaus mit Alizin behandeln lassen. Das Risiko für das Muttertier ist einfach zu groß und ich könnte es nicht verantworten, dass Embryonen/Föten langsam und daher für mich qualvoll zu Tode kommen.
Da nehme ich lieber einen Babyboom in Kauf und überlege was alternativ zur Vermittlungstierbegrenzung getan werden kann.


Quellen:

CPT: CliniPharm/CliniTox
CliniPharm Wirkstoffdaten: Aglepristone
Aglepriston ? Wikipedia
Progesteron ? Wikipedia
 
Wow, Danke für den Beitrag! Super informativ.

Vermutlich ist die Frage nach der Alizin Geschichte bei Farbmäusen ähnlich schwierig und persönlich wie bei Hunden,Menschen oder ähnliches.
Hier ist dann das Gewissen und die moralische/ethische Einstellung des Halters gefragt, inwiefern er bereit ist Verantwortung zu übernehmen.

Wenn ich mir vorstelle welche Ausmaße solche Notfelle wie z.B. Bremen genommen hätten wenn die Weibchen alle tragend gewesen wären...
Für Tierheime, Tierschutzorganisationen oder Notstationen bedeutet dies im Umkehrschluss natürlich viel mehr Arbeit und viele viele Mäuschen mehr.
 
Interessant wäre mal entsprechende Erfahrungsberichte zu sammeln...bei den größeren Notfällen in der Vergangenheit wurde es m.E. mehrfach verwendet, ob Muttertiere dabei geschädigt wurden oder ob alles glatt lief, unter welchen Vorkehrungsmaßnahmen, Abwägungen des TAs und Berücksichtigung des Allgemeinzustandes die Tiere behandelt wurden usw. ...

Wie wurde überhaupt beim Bremer Notfall vorgegangen? Weiß das jemand? *grübel*


Edit: Bei Großnotfällen mit zu erwartenden Jungtiermengen im zweistelligen Bereich wird wohl oder übel nur noch die Verfütterung als "Vermittlungstierbegrenzung" in Frage kommen. Ich weiß, das hört kein Tierfreund gerne. Aber wie will man so viele Mäuse unterbekommen, wenn die Tierheime schon aus allen Nähten platzen? Es gibt Zeiten, da quillt der Vermittlungsbereich über vor Notfällen, privat wie aus dem Tierschutz direket. Da bleibt manchmal keine andere Lösung in Sicht. *seufz*
 
Last edited:
@Scotchbride: ja, so eine Statistik fände ich auch sehr interessant.

Problem bei Tierschutzorganisationen ist halt, dass wohl kaum einer um die tatsächliche Wirkweise von Alizin weiß und gleichzeitig oft die Verfütterung abgelehnt wird.
Ich denke da müssten Tierheime sich eine eindeutige Regelung überlegen, denn wenn Jungtiere verfüttert werden wieso nicht auch gleich die adulten oder subadulten Böcke, die mit dem Notfall kommen? Erspart man sich viel Geld und Arbeit... *Angst*
Ich habe vorhin mal eine kleine Rechnung aufgestellt was aus einem Notfall mit 60 Tieren (40 davon Mädels im gebärfähigen Alter + 2 Würfe) werden kann wenn man von allen Würfen, die kommen und den beiden vorhandenen je nur 1-2 Mädels lassen würde - und was ist wenn man so verfährt wie gewohnt-> alle Weibchen, die keinen sichtbaren Bauch haben werden mit Alizin abgespritzt, die Würfe, die da sind oder von den deutlich trächtigen Mädels kommen, bleiben alle wie sie sind.
Da sind deutliche Unterschiede was Tieranzahlen angeht, die letztendlich vermittelt werden müssen, ebenso wie bei den Kastrakosten, die entstehen würden...
Von dem Platz, der Vermittlungsdauer und den zusätzlichen Käfigen, die die Jungböcke belegen würden ganz zu schweigen..
 
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