Murines Leukämievirus (MuLV)
und maligne Veränderungen der Abwehrzellen
Teil 1
Das
Murine Leukämievirus oder Maus-Leukämie-Virus (
MLV oder
MuLV) gehört zur Familie der
Retroviren (genauer: zu den Gammaretroviren).
Die Infektion mit Retroviren kann in unterschiedlichem Ausmaß die
malignen Entartung von körpereigenen Zellen zur Folge haben, das bedeutet eine körpereigene Zelle kann sich in eine Krebszelle umwandeln. Beim einer Infektion mit MuLV sind vor allem Zellen des
Abwehrsystems der Maus betroffen, die
Leukozyten. Es entstehen Tumoren, die aus entarteten Lymphozyten (einer Untergruppe der Leukozyten) bestehen, sogenannte
Lymphome. Die Lymphome bilden sich zunächst in den sogenannten lymphatischen Organen, dem natürlichen Aufenthaltsort der Abwehrzellen. Dazu zählen der Thymus, die Milz und die Lymphknoten. Eine weitere Möglichkeit ist, daß die entarteten Abwehrzellen das Blut überschwemmen (
leukämische Form). In dem Fall entsteht ein Krankheitsbild, das der menschlichen Leukämie vergleichbar ist (sogenannter „Blutkrebs“). In beiden Fällen wird durch die Erkrankung das funktionierende Abwehrsystem der Maus geschwächt. Die Maus kann gehäuft auch an anderen Infektionen erkranken, wie z.B. Atemwegsinfekten.
Die Maus kann auf verschiedenen Wegen mit dem Virus in Kontakt kommen. Man unterscheidet man eine
horizontale und eine
vertikale Verbreitung der Viren. Bei der
horizontalen oder
„ansteckenden“ Form infizieren sich vollkommen gesunde Mäuse an einer erkrankten Maus, ähnlich wie man es von Grippeviren kennt (
exogene Retroviren). Nach der Infektion bringt das Virus sein Erbgut in die Körperzellen der Maus ein, wo die Virus-DNA abgelesen wird und der Syntheseapparat der Wirtszelle beginnt, neue Viruspartikel herzustellen. Die neugebildeten Viren verlassen anschließend die Wirtszelle um neue Zellen zu befallen. Nach einer unterschiedlich langen Latenzzeit zeigen sich dann erste Krankheitszeichen. Die infizierte Maus kann wiederum andere Mäuse anstecken.
Eine weitere Möglichkeit ist die
intrauterine Infektion. Dabei gelangt das Virus vom Blut der infizierten Mutter in den Blutkreislauf der ungeborenen Jungen. Auch eine Ansteckung über die
Muttermilch ist möglich. Offenbar sind ungeborene oder neugeborene Jungtiere besonders empfänglich für bestimmte Virusstämme, während sich ältere Jungtiere oder adulte Mäuse teilweise gar nicht mehr infizieren. In manchen Fällen entwickeln die infizierten Mäusejunge aber auch eine Art partielle Toleranz gegen das Virus, sie tragen das Virus dann lebenslang in sich, ohne zwingend erkranken zu müssen.
Bei der
vertikalen oder
„vererbten“ Form wird das Virus nur an die eigenen Nachkommen weitergegeben. Retroviren haben die besondere Eigenschaft, ihr Erbgut in die DNA von Keimzellen der Maus
einbauen zu können, wo es unbemerkt verbleibt (
endogene Retroviren). Die ins ins Erbgut eingebaute Virus-DNA wird bei der Befruchtung an die Nachkommen "verteilt" und ist bei diesen dann in der DNA
aller Körperzellen vorhanden. Diese Mäuse sind für andere Mäuse
nicht ansteckend, sie haben aber ein Risiko an Tumoren oder malignen (bösartigen) Veränderungen der Abwehrzellen zu erkranken. Dafür müssen keine aktiven Viren in der Maus vorhanden sein! Die Viren-DNA kann über mehrere Generationen weiter vererbt werden. Oft aber verändert sich die Virus-DNA mit der Zeit durch Spontanmutationen und wird auf diese Weise sozusagen „unbrauchbar“. Die Wahrscheinlichkeit daß maligne Veränderungen der Abwehrzellen auftreten, also die Mäuse an Tumoren erkranken, nimmt daher möglicherweise von Generation zu Generation immer weiter ab.
Es gibt
verschiedene Stämme des Virus, die zum Teil nach ihren Entdeckern, zum Teil nach den Zellen benannt sind, die sie infizieren können. Die meisten Stämme wurden aus Mäusen, einige jedoch auch aus Ratten isoliert.
- Gross MuLV (1951) Das nach dem Entdecker benannte Cross-MuLV kommt wohl unter natürlichen Verhältnissen spontan vor, wobei Inzuchtlinien häufiger betroffen sind. Es induziert v.a. lymphatische Neoplasien.
- Graffi MuLV (1955) Das Graffi MuLV befällt sehr junge Mäuse, ältere Tiere sind weniger empfänglich. Hauptsächlich kommen myeloische Leukämien vor. Es sind aber auch lymphatische und retikulozytäre Formen bekannt. Die Übertragung erfolgt mit der Muttermilch.
- Friend MuLV (Fr-MuLV) (1957) Das Friend MuLV induziert eine Retikulumzellleukämie mit Vergrößerung von Milz und Leber sowie Retikulumzell-Sarkome. Thymus und Lymphknoten sind nicht beteiligt. Die Leukämie wird von einer Erythroblastose (Vermehrung unreifer roter Blutkörperchen) begleitet.
- Rauscher MuLV. Das Rauscher MuLV ist dem Friend MuLV ähnlich. Es führt schon 7 Tage nach der Infektion zu einer starken Erythro- und Leukopoese und verursacht eine starke Splenomegalie. Die Hälfte der Tiere stirbt innerhalb von 4 Wochen, die überlebenden entwickeln eine lymphatische Leukämie.
- Moloney MuLV (Mo-MLV oder Mo-MuLV) (1960). Das Mo-MuLV verursacht ebenfalls lymphatische Neoplasien, hat aber ein weiteres Wirtspektrum als das Gross MuLV, hat aber ein breiteres Wirtspektrum. Neben Neugeborenen sind auch erwachsene Mäuse empfänglich. Das Virus wird hauptsächlich über die Muttermilch übertragen. Ein den Menschen infizierender naher Verwandter von Mo-MLV, das Xenotropic Moloney murine leukemia virus-Related Virus (XMRV), wurde 2006 entdeckt.
- Abelson MuLV (Ab-MuLV) (1970). Dazu habe ich momentan keine weiteren Informationen gefunden.
- Harvey Sarkom Virus. Das Virus führt zur schnellen Bildung von anaplastischen Sarkomen, Angiomen und Leukämien bei Ratten, Hamstern und Mäusen.
Forschung: Da die Wahrscheinlichkeit einer mit MuLV infizierten Maus maligne Veränderungen der Abwehrzellen zu entwickeln bei einer hohen Belastung mit Viren bei nahezu 100% anzusetzen ist, werden MuLV-infizierte Mäuse als Modell ganz allgemein für die Entstehung von malignen Entartungen des Abwehrsystems seit Jahren in unzähligen Versuchsreihen verwendet. Dabei werden die Mäuse absichtlich mit hohen Mengen an Viren infiziert. Ein zweiter Forschungsansatz beschäftigt sich mit dem Einbringen von Genmaterial in die Maus. Dabei wird den Viren neues Erbgut zugesetzt und über die Infektion mit den Viren gelangt dieses Erbgut dann in die Mäuse. Inzwischen wird auch versucht, an den Mäusen neue gentechnische Therapien zur Krebsbekämpfung zu erforschen. Deshalb gehört das MuLV zu den am besten untersuchten Viren überhaupt.
Nicht Gegenstand der Forschung sind Fragen nach der Häufigkeit der Viren in Wildmaus- oder Farbmauspopulationen, der Übertragungswahrscheinlichkeit, der Erkrankungshäufigkeit infizierter Mäuse, sowie der Diagnostik oder Therapie erkrankter Mäuse. Möglicherweise lassen sich aber Erkenntnisse aus der Forschung an MuLV-Mäusen für die Beantwortung dieser Fragen verwenden und vielleicht kann damit den Mäusen von der Forschung etwas zurückgegeben werden, nachdem sie unfreiwillig seit Jahrzehnten der Wissenschaft für Versuchsreihen zur Verfügung stehen mußten.