Alles begann mit dem Tag, an dem ich aus meinem alten Knast entlassen wurde.
Im alten Knast im TH Potsdam hatte ich irgendwann aufgehört, die Tage zu zählen, es gab doch keine Abwechslung, und in der Eintönigkeit meines Daseins war das Fiepen der anderen Knastbrüder ein Stockwerk über mir und eines unter mir die einzige Unterbrechung. Ich aber saß alleine in meiner kleinen Zelle.
Irgendwann wurde mir klar, daß es so nicht weitergehen konnte: immer nur durchs Gitter hinausschauen, das ist doch kein Leben! Ich setzte mich also hin und versuchte, eine Kontaktanzeige zu verfassen:
„Junggebliebener charmanter Mäuserich mit Adonisfigur, lebensdurstig und putzerprobt, sucht…“
Nein, das konnte ich unmöglich schreiben. Man würde mich auslachen.
„Vitale Männergestalt mit Erfahrung im häuslichen Bereich möchte nicht mehr allein sein und Gleichgesinnte kennenlernen…“
Eine Katastrophe. Was würde ich sagen, wenn man mich fragte, woher ich käme? Natürlich hatte ich Bedenken: wer würde sich mit jemandem einlassen, der gerade eben aus dem Knast entlassen worden war? Der wegen Schlägerei in Isolationshaft gesessen hatte, so lange, bis er glaubte, es gäbe nur noch ihn allein auf dieser Welt?
Dann kam der Tag, an dem ich aus dem alten Knast entlassen wurde.
Nach dem Umzug war die Zelle größer und etwas komfortabler, aber die Langeweile nagte an meinem Verstand. Wenn der Mensch hereinkam, machte ich ihm schwanztrommelnd klar, daß er mir bloß vom Leib bleiben solle. Einsam saß ich lange in meinem halbzerstörten Körbchen und schaute melancholisch hinaus auf die Welt.
Im neuen Knast hatte ich wenigstens einen Job. Jeden Abend mußte ich beurteilen, welches Gemüse schmeckte und welches nicht. Die Arbeit war einfach, aber schlecht bezahlt. Ich war innerlich kaum bei der Sache.
Kornblume: Drei von drei Sternen.
Ringelblume: Zwei von drei Sternen. Grund: Zerrupfen ist gut, geschmacklich eher enttäuschend.
Salat: Drei von drei Sternen. Eignet sich auch gut zum Nestbau.
Gurke: Drei von drei Sternen.
Paprika: Kein Stern. Bitte weg damit.
Karotte: Einer von drei Sternen. Grund: schmeckt nur beim kurzen Annagen.
Danke, es hat geschmeckt!
Jede Nacht schien mir eine Ewigkeit. Manchmal war mir, als hörte ich Stimmen… Stimmen von fern, durch eine Tür, eine Wand… Manchmal zweifelte ich selbst an meinem Verstand. Es gab niemanden außer mir selbst, und ich bildete mir sicherlich nur ein, daß jemand in meiner Sprache spräche. Der Mensch ließ mich auch nicht hinaus, damit ich mich selbst auf die Suche nach den Stimmen und dem Geruch machen könnte.
Eine weitere Nacht verstrich. „Unverträglich mit Artgenossen“ hatte man über mich gesagt. Es half alles nichts. Ich mußte aktiv werden. Die Einsamkeit höhlte mich aus, ich schwankte zwischen Lethargie, dem Bedürfnis, für den Rest meines Lebens zu schlafen, und überschäumendem Tatendrang, den ich kaum abreagieren konnte, bis ich am liebsten mein Laufrad auseinandergenommen oder mich durch eine zwei Zentimeter dicke Holzplatte genagt hätte. Ich randalierte und nahm alles auseinander, was ich zwischen die Pfoten bekam, aber der Mensch brachte ständig Neues. Endlich nahm ich meinen Mut zusammen und schrieb:
„Mäuserich 9 Monate aufwärts, gut erhalten, lebenserprobt, sucht Gesprächspartner. Ich habe fast mein ganzes Leben alleine verbracht. Es ist mir egal, woher du kommst und wie du aussiehst. Wenn auch du nicht glauben magst, daß das Leben vorbei ist, ohne jemals angefangen zu haben, dann melde dich. Ich freue mich über deine Antwort.“
Mit leiser Hoffnung diktierte ich dem Menschen den Text. Jeden Abend stand ich auf, streckte mich und rannte zum Gitter, sobald der Mensch hereinkam und mich begrüßte. Er brachte Futter, Wasser, eine Backoblate, aber er kam immer allein. Mit jedem Tag schwand meine Hoffnung. Wie hatte ich bloß annehmen können, daß es irgendjemanden interessierte, ob ich hier alleine starb oder nicht? Nein, nichts würde sich verbessern. Es hatte keinen Sinn, darauf zu hoffen.
Plötzlich senkte sich die Servicehand auf mich nieder. Ohne nachzudenken schoß ich in ein aus dem Nichts entstandenes kleines Körbchen --- und saß in der Falle! Es war ein mieser Trick gewesen, und man hatte mich hereingelegt wie eine unerfahrene Flohmaus. Beschämt zog ich mich zurück und konnte nichts weiter tun als abzuwarten, bis mein Gefängnis sich schwankend bewegte. Als der Ausgang plötzlich freigegeben wurde, rannte ich sofort heraus.
Ich wußte nicht, wo ich war. Woanders. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine neuerliche Gefangenenüberführung in einen anderen Knast, ich kannte das inzwischen ja zur Genüge. Und dann sah ich ihn: es war ein kleiner Knirps, und er duckte sich in die Ecke.
Fragend ging ich zu ihm, schnupperte kurz, stellte ihm eine Vorderpfote auf den Kopf und begann ihn zu putzen. Der Kleine schien schrecklich viel Angst vor mir zu haben. Plötzlich begann er zu zetern, und ich gab ihm erst mal eins auf die Mütze. Er schrie noch lauter. Da wurde es mir zu bunt --- Freundchen, hier ist nur Platz für genau einen Kerl! Aber ehe ich den Knirps richtig zwischen die Zähne bekam, senkte sich die Servicehand auf mich, trennte uns beide und setzte mich zurück in meine Zelle. Hin- und herlaufend, stellte ich fest, daß der zeternde Zwerg nicht gewagt hatte, in mein Revier einzudringen. Alles war unangetastet, und ich zog mich allein in mein Schlafnest zurück.
Wieder einmal hatte ich meine Fähigkeiten als Schläger unter Beweis gestellt. Wenn der Mensch kam und Futter brachte, lief ich zu ihm. Oft sprang ich ans Gitter, damit er verstand, was ich von ihm wollte, aber er schien nie zu begreifen; ich sehnte mich danach, hinauszulaufen, um mich auf die Suche nach den Mäusen zu machen, deren Stimmen ich in der Ferne zu hören glaubte.
Im alten Knast im TH Potsdam hatte ich irgendwann aufgehört, die Tage zu zählen, es gab doch keine Abwechslung, und in der Eintönigkeit meines Daseins war das Fiepen der anderen Knastbrüder ein Stockwerk über mir und eines unter mir die einzige Unterbrechung. Ich aber saß alleine in meiner kleinen Zelle.

Irgendwann wurde mir klar, daß es so nicht weitergehen konnte: immer nur durchs Gitter hinausschauen, das ist doch kein Leben! Ich setzte mich also hin und versuchte, eine Kontaktanzeige zu verfassen:
„Junggebliebener charmanter Mäuserich mit Adonisfigur, lebensdurstig und putzerprobt, sucht…“
Nein, das konnte ich unmöglich schreiben. Man würde mich auslachen.
„Vitale Männergestalt mit Erfahrung im häuslichen Bereich möchte nicht mehr allein sein und Gleichgesinnte kennenlernen…“
Eine Katastrophe. Was würde ich sagen, wenn man mich fragte, woher ich käme? Natürlich hatte ich Bedenken: wer würde sich mit jemandem einlassen, der gerade eben aus dem Knast entlassen worden war? Der wegen Schlägerei in Isolationshaft gesessen hatte, so lange, bis er glaubte, es gäbe nur noch ihn allein auf dieser Welt?
Dann kam der Tag, an dem ich aus dem alten Knast entlassen wurde.
Nach dem Umzug war die Zelle größer und etwas komfortabler, aber die Langeweile nagte an meinem Verstand. Wenn der Mensch hereinkam, machte ich ihm schwanztrommelnd klar, daß er mir bloß vom Leib bleiben solle. Einsam saß ich lange in meinem halbzerstörten Körbchen und schaute melancholisch hinaus auf die Welt.

Im neuen Knast hatte ich wenigstens einen Job. Jeden Abend mußte ich beurteilen, welches Gemüse schmeckte und welches nicht. Die Arbeit war einfach, aber schlecht bezahlt. Ich war innerlich kaum bei der Sache.
Kornblume: Drei von drei Sternen.
Ringelblume: Zwei von drei Sternen. Grund: Zerrupfen ist gut, geschmacklich eher enttäuschend.
Salat: Drei von drei Sternen. Eignet sich auch gut zum Nestbau.
Gurke: Drei von drei Sternen.
Paprika: Kein Stern. Bitte weg damit.
Karotte: Einer von drei Sternen. Grund: schmeckt nur beim kurzen Annagen.



Danke, es hat geschmeckt!

Jede Nacht schien mir eine Ewigkeit. Manchmal war mir, als hörte ich Stimmen… Stimmen von fern, durch eine Tür, eine Wand… Manchmal zweifelte ich selbst an meinem Verstand. Es gab niemanden außer mir selbst, und ich bildete mir sicherlich nur ein, daß jemand in meiner Sprache spräche. Der Mensch ließ mich auch nicht hinaus, damit ich mich selbst auf die Suche nach den Stimmen und dem Geruch machen könnte.


Eine weitere Nacht verstrich. „Unverträglich mit Artgenossen“ hatte man über mich gesagt. Es half alles nichts. Ich mußte aktiv werden. Die Einsamkeit höhlte mich aus, ich schwankte zwischen Lethargie, dem Bedürfnis, für den Rest meines Lebens zu schlafen, und überschäumendem Tatendrang, den ich kaum abreagieren konnte, bis ich am liebsten mein Laufrad auseinandergenommen oder mich durch eine zwei Zentimeter dicke Holzplatte genagt hätte. Ich randalierte und nahm alles auseinander, was ich zwischen die Pfoten bekam, aber der Mensch brachte ständig Neues. Endlich nahm ich meinen Mut zusammen und schrieb:
„Mäuserich 9 Monate aufwärts, gut erhalten, lebenserprobt, sucht Gesprächspartner. Ich habe fast mein ganzes Leben alleine verbracht. Es ist mir egal, woher du kommst und wie du aussiehst. Wenn auch du nicht glauben magst, daß das Leben vorbei ist, ohne jemals angefangen zu haben, dann melde dich. Ich freue mich über deine Antwort.“
Mit leiser Hoffnung diktierte ich dem Menschen den Text. Jeden Abend stand ich auf, streckte mich und rannte zum Gitter, sobald der Mensch hereinkam und mich begrüßte. Er brachte Futter, Wasser, eine Backoblate, aber er kam immer allein. Mit jedem Tag schwand meine Hoffnung. Wie hatte ich bloß annehmen können, daß es irgendjemanden interessierte, ob ich hier alleine starb oder nicht? Nein, nichts würde sich verbessern. Es hatte keinen Sinn, darauf zu hoffen.
Plötzlich senkte sich die Servicehand auf mich nieder. Ohne nachzudenken schoß ich in ein aus dem Nichts entstandenes kleines Körbchen --- und saß in der Falle! Es war ein mieser Trick gewesen, und man hatte mich hereingelegt wie eine unerfahrene Flohmaus. Beschämt zog ich mich zurück und konnte nichts weiter tun als abzuwarten, bis mein Gefängnis sich schwankend bewegte. Als der Ausgang plötzlich freigegeben wurde, rannte ich sofort heraus.
Ich wußte nicht, wo ich war. Woanders. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine neuerliche Gefangenenüberführung in einen anderen Knast, ich kannte das inzwischen ja zur Genüge. Und dann sah ich ihn: es war ein kleiner Knirps, und er duckte sich in die Ecke.
Fragend ging ich zu ihm, schnupperte kurz, stellte ihm eine Vorderpfote auf den Kopf und begann ihn zu putzen. Der Kleine schien schrecklich viel Angst vor mir zu haben. Plötzlich begann er zu zetern, und ich gab ihm erst mal eins auf die Mütze. Er schrie noch lauter. Da wurde es mir zu bunt --- Freundchen, hier ist nur Platz für genau einen Kerl! Aber ehe ich den Knirps richtig zwischen die Zähne bekam, senkte sich die Servicehand auf mich, trennte uns beide und setzte mich zurück in meine Zelle. Hin- und herlaufend, stellte ich fest, daß der zeternde Zwerg nicht gewagt hatte, in mein Revier einzudringen. Alles war unangetastet, und ich zog mich allein in mein Schlafnest zurück.
Wieder einmal hatte ich meine Fähigkeiten als Schläger unter Beweis gestellt. Wenn der Mensch kam und Futter brachte, lief ich zu ihm. Oft sprang ich ans Gitter, damit er verstand, was ich von ihm wollte, aber er schien nie zu begreifen; ich sehnte mich danach, hinauszulaufen, um mich auf die Suche nach den Mäusen zu machen, deren Stimmen ich in der Ferne zu hören glaubte.
